Das bedeutet das BAG-Urteil für Unternehmer
Systematische Arbeitszeiterfassung: Was gilt jetzt?
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Inhaltsverzeichnis
- Hintergrund: Das EuGH-Urteil von 2019
- Rechtslage in Deutschland und Untätigkeit des Gesetzgebers
- Was bedeutet das BAG-Urteil für Unternehmen?
- Was können Angestellte tun, wenn der Arbeitgeber nicht reagiert?
- Wer muss Überstunden im Prozess nachweisen?
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„Der Arbeitgeber ist (…) verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.“ Dieser erste Satz einer Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) im Urteil zur systematischen Arbeitszeiterfassung sorgte am 13. September 2022 in vielen deutschen Unternehmen für Aufruhr.
Offenbar hatten die Richter des BAG schon seit Längerem nur auf die passende Gelegenheit gewartet. Nun haben sie entschieden: Die entsprechende Verpflichtung ergebe sich aufgrund einer unionsrechtskonformer Auslegung des § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG), wonach Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ hätten, so das BAG weiter (Beschl. v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21).
In dem zugrundeliegenden Fall hatte ein Betriebsrat unter Berufung auf sein Initiativrecht die Einführung einer Arbeitszeiterfassung gefordert und deshalb die Einigungsstelle angerufen. Das BAG wies die Klage nun ab. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt sei. Dies sei aber eben bereits der Fall.
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Hintergrund: Das EuGH-Urteil von 2019
Hintergrund der BAG-Entscheidung war ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019. Danach muss der Arbeitgeber durch die jeweiligen Mitgliedstaaten verpflichtet werden, ein „objektives, verlässliches und zugängliches System“ zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter einzuführen (Urteil vom 14.05.2019, Az. C-55/18). Die Grundrechtecharta der Europäischen Union und die Arbeitszeitrichtlinie würden zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit verpflichten. Nur so lasse sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten eingehalten würden.
Dies sei für Arbeitnehmer unerlässlich, um ihre Ansprüche auf Ruhezeiten effektiv durchzusetzen. Schließlich sei der Arbeitnehmer die schwächere Partei des Arbeitsvertrags, so dass verhindert werden müsse, dass der Arbeitgeber seine Rechte beschränkt. Ohne ein Arbeitszeiterfassungssystem könnten weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden. Damit wäre es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen. Nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Arbeitgeber und auch die zuständigen Behörden und nationalen Gerichte müssten kontrollieren können, ob die Arbeitnehmerrechte tatsächlich beachtet wurden.
Rechtslage in Deutschland und Untätigkeit des Gesetzgebers
Bisher sind gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) Arbeitgeber nur dazu verpflichtet, Überstunden und Sonntagsarbeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen. Dokumentationen der geleisteten Arbeitszeit waren nur in Wirtschaftszweigen wie dem Bau- oder Gaststättengewerbe Pflicht, in denen häufig Schwarzarbeit geleistet wird. Dies reicht nun nicht mehr aus – stattdessen muss nun jedes Unternehmen die gesamte Arbeitszeit erfasst werden.
Die EuGH-Entscheidung wurde nach überwiegender – aber nicht unbestrittener Auffassung – als Handlungsvorgabe an die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten verstanden, die entsprechenden Gesetze für die Umsetzung einer Zeiterfassung nach Maßgabe des EuGH zu erlassen. Die Mitgliedstaaten sollten dann laut EuGH bei der Einführung eines solchen Systems konkret entscheiden, wie genau ein solches System umgesetzt wird und dass dabei den Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs bzw. den Eigenheiten, der Größe und bestimmten Unternehmen Rechnung getragen wird.
Der deutsche Gesetzgeber hat bis heute noch nicht an der Neuregelung des Arbeitszeitgesetzes gearbeitet. Der Koalitionsvertrag beschränkt sich lediglich auf den Passus: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein“ Ein Gesetzentwurf ist aber noch nicht in Sicht. Zeitdruck wurde nicht angenommen, denn eine unmittelbare Verpflichtung der Arbeitgeber direkt aus der EuGH-Entscheidung lehnte eine überwiegende Auffassung der Juristen bislang ab. Nur zwei Amtsgerichte hatten bislang schon in diese Richtung argumentiert, was jedoch folgenlos blieb. Nun also die Kehrtwende durch das höchste Arbeitsgericht Deutschlands.
Der Gesetzgeber sollte jetzt schnell nachziehen und hier für mehr Klarheit sorgen, was konkret das Urteil für Unternehmen bedeutet. Zwar kündigte die SPD-Fraktion direkt nach dem Urteil an, ein entsprechendes Gesetz zu verabschieden – noch ist hierzu aber nichts Konkretes bekannt. Bislang gibt es nur ein FAQ des Bundesarbeitsministeriums vom 28. September. Darin heißt es: „Welche Konsequenzen sich konkret aus der Entscheidung des BAG für den Gesetzgeber ergeben, muss geprüft werden und hängt im Detail von den noch nicht veröffentlichten Entscheidungsgründen ab. Danach wird das BMAS Vorschläge für die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung machen.“
Was bedeutet das BAG-Urteil für Unternehmen?
Die Vorgabe gilt bereits seit dem 13. September. Das Arbeitsschutzgesetz, auf das sich das BAG bezieht, gilt für alle Arbeitnehmer, aber nicht für Selbstständige, für leitende Angestellte oder für Geschäftsführer und für Hausangestellte in privaten Haushalten.
Wie das System aber genau in der Praxis aussehen soll – z.B. handschriftlich, Stechuhr, elektronischer Erfassung – dazu gibt es aktuell keine klaren Vorgaben. Der EuGH hatte im Jahr 2019 keine Vorgaben zu der Ausgestaltung eines solchen Systems formuliert. Ob das BAG hierzu etwas gesagt hat, ist nicht bekannt, denn die Urteilsgründe sind noch nicht veröffentlicht. Auf der Seite des BMA heißt es nur: „Um die Einhaltung der Höchstarbeitszeit sowie der täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten wirksam gewährleisten zu können, muss der Arbeitgeber Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit jeder Arbeitnehmerin bzw. jedes Arbeitnehmers aufzeichnen.“ Und: „Für die Aufzeichnung besteht derzeit keine Formvorschrift; sie kann auch handschriftlich erfolgen.“
Die Vertrauensarbeitszeit soll, wie im Koalitionsvertrag geplant, weiterhin möglich sein, so das BMA. Arbeitnehmende, die z.B. im Homeoffice arbeiten, sollen weiterhin Beginn und Ende ihrer täglichen Arbeitszeit im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und der des Arbeitgebers selbst und ohne externe Kontrolle bestimmen können. Allerdings müssen sie jetzt systematisch die Arbeitszeit erfassen.
Was können Angestellte tun, wenn der Arbeitgeber nicht reagiert?
Reagiert der Arbeitgeber nicht auf das Urteil, können Arbeitnehmer sich an einen eventuell vorhandenen Betriebsrat wenden. Dieser kann auf Grundlage ihrer Kontrollaufgabe nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG einen Verstoß des Arbeitgebers gegen die Verpflichtung zur Einführung eines entsprechenden Arbeitszeiterfassungssystems geltend machen.
Alternativ kann man den Arbeitgeber auch jederzeit direkt dazu auffordern. Sollte dieser auch dann nicht reagieren, kann der Verstoß bei der zuständigen Arbeitsschutzbehörde (in der Regel das Gewerbeaufsichtsamt oder das Landesamt für Arbeitsschutz) oder dem Technischen Aufsichtsdienst (TAD) der jeweiligen Berufsgenossenschaft gemeldet werden.
Verstöße gegen das Arbeitsschutzgesetzes können nach § 25 ArbSchG mit Bußgeldern bis zu einer Höhe von 25.000 Euro geahndet werden und können etwa bei Gesundheitsgefahren sogar strafbar sein.
Wer muss Überstunden im Prozess nachweisen?
Generell gilt aber: Möchte der Arbeitnehmer Überstundenausgleich in Zeit oder Geld verlangen, steht er immer noch in der Pflicht, nachzuweisen, dass und wie viele Überstunden auch tatsächlich geleistet wurden. Das ergibt sich aus einem BAG-Urteil vom 4. Mai 2022 (Az. 5 AZR 359/21).
Das Arbeitsgericht hatte es in der ersten Instanz noch anders gesehen und aus dem EuGH-Urteil abgeleitet: Wenn der Arbeitgeber schon dazu verpflichtet sei, alle Überstunden zu dokumentieren, dann reiche ihm ja ein Blick in die Aufzeichnungen. Der Arbeitnehmer müsse dann nicht mehr beweisen, dass und wie viele Überstunden der Arbeitgeber veranlasst hatte.
Diese faktische Beweislastumkehr haben jedoch das Landesarbeitsgericht und das BAG verneint. Danach habe der EuGH die Pflicht zur Zeiterfassung festgestellt, um die Gesundheit der Arbeitnehmer zu schützen. Nicht aber, um eine angemessene Vergütung für Überstunden zu sichern.
Dafür habe der EuGH keine Kompetenz. Deshalb habe dessen Urteil auch keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast zur Frage, ob der Arbeitgeber die Überstunden auch angeordnet habe.
Für Arbeitnehmer bedeutet das: Sie sollten zusätzlich zur systematischen Erfassung der Arbeitszeit auch dokumentieren, warum Überstunden angefallen sind, was sie in dieser Zeit getan haben und dass der Arbeitgeber diese auch angeordnet oder zumindest geduldet hat.
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Über den Autor
Christian Solmecke
Rechtsanwalt Christian Solmecke hat in seiner Kölner Kanzlei WBS.LEGAL den Bereich Internetrecht/E-Commerce stetig ausgebaut. Er betreut dort zahlreiche Online-Händler, Medienschaffende und Web-2.0-Plattformen. Daneben ist RA Solmecke Gründer von anwalt2go sowie mehreren IT-Startups. Seine ersten Projekte hat er selbst programmiert. Neben seiner Kanzleitätigkeit und der Geschäftsführung der cloudbasierten Kanzleisoftware Legalvisio.de ist Christian Solmecke Autor zahlreicher Fachbücher zum Thema Online-Recht und Geschäftsführer des Deutschen Instituts für Kommunikation und Recht im Internet (DIKRI) an der Cologne Business School (http://www.dikri.de). Dort beschäftigt er sich insbesondere mit den Rechtsfragen in Sozialen Netzen. Vor seiner Tätigkeit als Anwalt arbeitete Solmecke mehrere Jahre als Journalist für den Westdeutschen Rundfunk und andere Medien.